Das Selfie

„It’s hard, it’s hard, it’s hard out here for a bitch it’s hard…“ Das Klacken von Jolinas Absätzen hallte auf der menschenleeren Straße. Sie wurde nicht langsamer, während der schrille Klingelton des Handys erklang.

Jolina seufzte genervt und angelte das iPhone aus ihrer Umhängetasche. Das Display leuchtete sanft im Dunkel der Nacht, wie ein Glühwürmchen, dachte Jolina. Nur dass es im Oktober wohl kaum noch Glühwürmchen gab. Die waren bei dieser Kälte garantiert schon ab Richtung Süden oder was auch immer solches Krabbelzeug im Winter treiben mochte.

Cheyenne stand in großen Buchstaben auf dem Display. Jolina verdrehte die Augen. Sie spuckte ihren ausgelutschten Kaugummi auf das Pflaster, lehnte sich gegen die Friedhofsmauer und nahm ab.

„Was gibt’s, Zicke?“, fragte sie und betrachtete ihre Fingernägel. Es war bald an der Zeit für eine Maniküre. „Ja, ich bin fast da. Wenn Du nicht nerven würdest, hätte ich die Sache längst erledigt.“ Sie warf die blonden Locken zurück und lachte verächtlich. „Ach komm, was ist schon dabei? In zehn Minuten bin ich zurück auf der Party.“ Sie lächelte boshaft. „Und dann wird Yannic seinen Wetteinsatz einlösen müssen, keine Frage.“

Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, fummelte einen neuen Kaugummi aus der Hosentasche. Ätzend die Dinger. Aber sie hatte ihrem Dad versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Er hatte sie mit einem Mini Cooper zum 18. Geburtstag gelockt. So lange musste sie durchhalten.

„Ja klar, ich melde mich“, sagte sie und schob einen Streifen Kaugummi zwischen die Zähne. „Ciao!“ Sie tippte auf das Display, beendete so das Gespräch. „Dummbratze“, sagte sie. Sie ließ das Iphone zurück in die Tasche fallen.

Jolina stieß sich von der Mauer ab und ging zügig die letzten Meter bis zur Friedhofspforte. Eine selten dämliche Wette war das. Dachte Yannic wirklich, dass er sie mit so etwas einschüchtern konnte? Für so dumm hätte sie ihn nicht gehalten. Aber Yannic war süß, ein echtes Brett. Wenn er so eine Aktion brauchte, um auf sie abzufahren, bitte.

Jolina stieß das Friedhofstor auf. Es öffnete sich quietschend. Dunkel lag das parkähnliche,von Bäumen bestandene Gelände vor ihr. Ein kalter Hauch wehte ihr entgegen. Der Ruf eines Käuzchens erklang in einem der Bäume. Jolina verzog verächtlich die Lippen. „Was, echt jetzt? Noch mehr billiger Horrorfilm geht nicht, oder?“

Mit einem energischen Ruck schloss Jolina das Tor und machte sich auf den Weg. Der Kies knirschte unter ihren High Heels. Hoffentlich lohnte sich diese alberne Aktion wenigstens. Die Party war gut gewesen. Die Musik war angesagt, die Cocktails waren gratis und die Jungs heiß. Keiner war so heiß wie Yannic, ohne Frage. Leider wusste er das auch. Und er wusste, dass sie es wusste. Zu seinem Unglück wusste Jolina außerdem, dass er tierisch auf sie abfuhr. Sein dämlicher Kumpel hatte es Cheyenne gesagt, und ihre Freundin hatte es natürlich sofort weitererzählt.

Jolina blieb mit dem Absatz hängen, kam ins Stolpern und legte sich beinahe hin. Sie fluchte, hob den verlorenen Schuh auf und unterzog ihn sofort einer genauen Kontrolle. Zum Glück war der Absatz in Ordnung. Wenn ihre neuen Manolos unter dieser Schnapsidee zu leiden hatten, würde Yannic dafür büßen.

Die Hand auf einen der Grabsteine abgestützt, zog Jolina den Schuh wieder an. Eine leichte Bewegung an ihrem kleinen Finger ließ sie hinschauen. Neben ihrer Hand saß eine Maus auf dem Marmor und starrte sie an.

Jolina quietschte, holte aus und fegte die Maus mit dem Handrücken von dem Grabstein. Das Tier prallte gegen einen nahen Baum und fiel reglos ins hohe Gras. Jolina schnaufte tief. Sie holte mit spitzen Fingern ein Feuchtigkeitstuch aus ihrer Tasche und wischte sich angeekelt die Hand ab. „Also echt, das ist doch nicht wahr!“ Oh ja, Yannic würde bezahlen. Essen, Kino, Popcorn. Das war das Mindeste.

„It’s hard, it’s hard, it’s hard out here for a bitch, it’s hard…“

Jolina zuckte zusammen. Schon wieder das Handy. Sie holte das iPhone heraus und nahm das Gespräch an, ohne auf das Display zu schauen. „Cheyenne, du Hohlbirne, ich hab doch gesagt, ich melde mich, wenn…“

Sie verstummte. Ihre Nasenflügel bebten leicht. „Oh, Paps, sorry. Ich dachte, es wäre Cheyenne…“ Sie ließ das Feuchttuch achtlos zu Boden fallen. „Natürlich bin ich mit Cheyenne unterwegs. Sie ist nur… gerade mit ein paar Kumpels zur Tanke gefahren. Sie kommt bestimmt gleich wieder.“

Jolina sah sich unbehaglich um. „Ich bin im Garten. Frische Luft schnappen. Nein, Paps, ich hab’s dir doch versprochen, ich rauche nicht mehr.“

Es folgte eine minutenlange Rede ihres Vaters, die sie nur zu gut kannte. Jolina schaltete ihre Ohren auf Durchzug und beschränkte sich darauf, gelegentlich „Hm“ und „Klar“ zu murmeln. Sie sah sich um. Auf dem Grabstein, auf dem die Maus gesessen hatte, stand in goldenen Buchstaben Helene – Was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit.

Was für ein Kitsch, dachte Jolina. Ein einzelnes Wort, eine Frage ihres Vaters, drang zu ihr durch. „Aber sicher war ich auf dem Friedhof. Ich hab doch versprochen, nach Mamas Grab zu sehen.“ Das war nicht gelogen, dachte Jolina. Immerhin war sie hier. Wenn auch aus anderen Gründen.

„Paps, ich muss jetzt Schluss machen. Ja klar, spätestens um eins. Tschüß!“

Jolina sah auf das Dispay. Sie erschrak. Sie hatte schon viel zu lange gebraucht. Yannic würde noch denken, dass sie Schiss bekommen hatte. Sie musste sich beeilen und endlich das verdammte Foto machen.

Ein Friedhofs-Selfie – wer war nur auf diese idiotische Idee gekommen? Yannic garantiert nicht, dazu war er nicht clever genug. Bestimmt hatte er die Idee aus Facebook oder von Youtube.

Kurz gerieten Jolinas Schritte ins Stocken. Hatte Yannic sie vielleicht gar nicht zu der Mutprobe aufgefordert, weil er sie scharf fand, sondern weil sie zufällig eine tote Mutter auf dem Friedhof hatte?

Das Käuzchen stieß erneut seinen klagenden Schrei aus. „Halts Maul!“, sagte Jolina. Entschlossen ging sie weiter. Nein, das würde er nicht wagen. Niemand würde es wagen, so mit Jolina umzuspringen. Sie war schließlich nicht irgendwer.

Das Grab ihrer Mutter lag direkt hinter der Trauerhalle. Als sich Jolina näherte, wurde sie unwillkürlich wieder langsamer. Seit der Beerdigung vor einem halben Jahr war sie nicht hier gewesen. Damals war das Grab nur ein brauner Hügel, über und über mit Blumen und Kränzen bedeckt. Ihre Mutter war beliebt gewesen. Ein guter Mensch, sagte ihr Vater.

Jetzt leuchtete ein heller Gedenkstein am oberen Ende des Grabes im Mondlicht. Er war vor einigen Tagen erst gesetzt worden. Deswegen hatte ihr Vater sie aufgefordert, herzukommen. Hinter dem Grab stand auf einem Podest ein steinerner Engel. Er starrte Jolina anklagend aus pupillenlosen Augen entgegen.

Die letzten Meter bis zum Grab musste sie sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Schrift auf dem Grabstein ihrer Mutter war nicht golden, sondern in schlichten schwarzen Buchstaben gehalten. In Erinnerung an Ellen – geliebte Ehefrau und Mutter. Daneben ein ovales Bild in einem Rahmen. Es zeigte eine hübsche, dunkelhaarige Frau mit einem sanften Lächeln. Jolina hatte ihrer Mutter nie sehr ähnlich gesehen. Sie kam mehr nach ihrem Vater.

Die Schrift und das Bild waren auf der linken Seite aufgebracht. Die rechte Seite war freigelassen worden. Eines Tages sollten dort Paps‘ Lebensdaten stehen. Es war ein Doppelgrab.

„It’s hard, it’s hard, it’s hard out here for a bitch it’s hard…“ Jolina zuckte zusammen und hätte beinahe das vibrierende iPhone fallen gelassen. Sie riss es an ihr Ohr und fauchte: „Was?“

Sie drehte sich um, um das Bild ihrer Mutter während des Gesprächs nicht vor Augen zu haben. Ihre Stimme wurde sanfter,  gurrend. „Yannic, Baby, ich bin total adrenalisiert. Ich war gerade dabei, das Selfie zu posten. Also behalt mein Facebook-Profil schön im Blick, klar?“ Sie lachte gekünstelt. „Ich weiß nicht, was ihr wollt, es ist eine total coole Location. Die nächste Party schmeißen wir hier.“

Ohne sich zu verabschieden legte Jolina auf. Sie steckte das Handy kurz weg, um in ihrem Kosmetikspiegel Make-up und Frisur zu überprüfen. Wenn sie diesen Mist schon postete, dann wollte sie auch ein Burner sein. Sie stellte sich in Position, setzte ihr Duckface auf und hob den Arm. Mit einem leisen Klick-Ton, der altmodisch klang aber aus den winzigen iPhone-Boxen kam, war das Selfie geschossen.

Rasant flogen Jolinas Finger über die Eingabefelder. Innerhalb von Sekunden hatte sie das Bild gepostet, getwittert und per Whatsapp an alle ihre Kontakte geschickt. Sie atmete auf. Diese Wette hatte sie klar gewonnen.

Jolina wollte das Handy wegstecken, als ihr Blick nochmals auf das soeben geschossene Foto fiel. Sie kniff die Augen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Auf dem Bild war hinter ihr der Grabstein zu sehen. Mit Zeige- und Mittelfinger zoomte sie heran. Ihre Augen weiteten sich entsetzt. „Nein“, stammelte sie.

Das iPhone entglitt ihren Fingern und schlug hart auf den Kies auf. Die Absätze der Manolos brachen ab, als Jolina davonrannte. Vor dem Grab ihrer Mutter lag das iPhone und vibrierte leicht. „It’s hard, it’s hard, it’s hard out here for a bitch it’s hard…“

Nach einer Minute verstummte der Klingelton und im Display erschien Jolinas Facebook-Profil. Der aktuelle Status zeigte sie vor einem Grab. Auf der rechten Seite des Gedenksteines stand: In Erinnerung an Jolina – geliebte Tochter und gute Freundin. Darunter angebracht war das Portraitfoto eines hübschen Mädchens mit blonden Locken. Der Eintrag hatte bereits über 20 Likes.

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